Freimaurerische Tugenden und Werte

Den folgenden Vortrag über Freimaurerische Tugenden und Werte möchten wir Ihnen als Einstimmung auf die Freimaurerei ans Herz legen:

Sehr geehrte Leser,

Die Frage, die zu beantworten mir aufgetragen wurde, lautet: 

Gibt es freimaurerische Tugenden?

Nach einigen Überlegungen und näherer Beschäftigung mit dieser Frage wurde mir klar:

Soll ich die Frage in dem Sinne beantworten: Gibt es spezifische freimaurerische Tugenden, also von den Freimaurern kreierte Tugenden, so lautet die Antwort klipp und klar: NEIN!

Folgendes biete ich Ihnen daher an:

Ich werde darlegen, warum es nach meiner Überzeugung gar keine spezifisch freimaurerischen Tugenden geben kann.
Dann werde ich ausführlich zu dem Begriff Tugend Stellung nehmen und anschließend der Frage nachgehen: Gibt es Werte, die die Freimaurer insbesondere schätzen und pflegen. Warum ich an dieser Stelle ganz bewusst von Werten und nicht von Tugenden spreche, wird in meinen Ausführungen deutlich werden.

Nun zunächst zu meiner Überzeugung, dass es keine spezifisch freimaurerischen Tugenden geben kann.
Ich beziehe mich dabei auf Lessing und seine berühmten Gespräche für Freimaurer.
Ernst, noch nicht Freimaurer, er befindet sich also in Ihrem Status, liebe Gäste, fragt seinen Freund Falk: Bist Du ein Freimaurer?

Nach einigem hin und her antwortet ihm Falk, dass man Freimaurer sein kann, ohne aufgenommen zu sein, wenn man weiß, was Freimaurerei ist.
Falk – und somit Lessing – definiert Freimaurerei wie folgt:

Die Freimaurerei ist nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches; sondern etwas Notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist.

Folglich muss man auch durch eigenes Nachdenken eben sowohl darauf verfallen können, als man durch Anleitung darauf geführet wird.

Und ein paar Antworten weiter sagt Falk dann noch:

Freimaurerei war immer.

Zu Recht fragt Ernst nun weiter: Wenn Freimaurerei etwas unentbehrlich Notwendiges ist, das es seit Menschengedenken gibt, wie breiten die Freimaurer sich denn dann aus und die Antwort des Freimaurers Falk lautet:
durch Taten.

Merken Sie sich bitte „durch Taten“. Denn die Taten werden in ein paar Minuten wieder auftauchen.

Wie kann man nach all diesen Fragen und Antworten Freimaurerei denn nun beschreiben? Ich denke, wie folgt: 

Freimaurerei ist eine Geisteshaltung, die sich in Taten manifestiert, und zwar eine Geisteshaltung, die in dem Wesen des Menschen begründet ist.
Und was ist in dem Wesen des Menschen begründet.
Die Neuro-Biologen sagen – das sind die neuesten Forschungsergebnisse – eins steht fest: Es gibt in dem Menschen einen Sinn für Moral, für Sittlichkeit. Dazu drei Thesen auf einen Blick:

Faires und soziales Verhalten verdanken wir zunächst weniger unserer Vernunft als vielmehr unserem Einfühlungsvermögen.

Ein gewisses empathisches Potenzial – der Begriff Empathie wird in meinem Vortrag noch eine besondere Rolle spielen – scheint jedem Kind in die Wiege gelegt zu sein.

Erst mit zunehmendem Alter kommt die Vernunft stärker zum Zuge. Entsprechend ihren kognitiven Fähigkeiten lernen jüngere Menschen, ihr Verhalten ethisch zu reflektieren.
(Gehirn und Geist, Nr. 1-2, 2008)

Fassen wir dies zusammen, so können wir sagen: Freimaurerei ist eine auf Moral, auf Sittlichkeit ausgerichtete Geisteshaltung, die sich in Taten beweist und im Menschen angelegt ist.
Freimaurerei ist Gesinnung und Verantwortung. Deshalb sind Freimaurer Menschen, die den Vorstellungen von Max Weber folgen – von dem ich nicht weiß, ob er Freimaurer war -, der fordert, Gesinnungsethik durch Verantwortungsethik abzulösen.

Für den Freimaurer sind nicht nur die Absichten des Handelnden von Bedeutung sondern auch die Folgen der getroffenen Entscheidungen, die Taten.
Nicht die Gesinnung macht den guten Menschen aus, sondern was er daraus macht!

Nun ist all das Gesagte noch kein Beweis meiner These, dass es keine freimaurerischen Tugenden geben kann.
Ich bitte Sie aber, die Definition: Freimaurerei ist eine dem Menschen immanente sittliche Haltung, die sich in Taten manifestiert, gut im Gedächtnis zu behalten.

Denn nun komme ich zu den Tugenden.

Ein Vortrag zu dem Begriff TUGEND würde sich lächerlich machen, würde er Originalität oder Neuheit beanspruchen.
Wahrscheinlich hören Sie also Bekanntes.

Trotzdem mit „TUGEND“ ging es mir wie so oft, wenn ich beginne, mich mit einem Begriff intensiv auseinanderzusetzen, er ist vielschichtig!

Ich kannte den Begriff „KARDINALTUGENDEN“ und hielt diese für Werte.

Ganz falsch ist diese Auffassung auch nicht, zumindest aber ist diese Vorstellung nicht vollständig.
Nach dem Griff zu verschiedenen Lexika und zu diversen Büchern und Artikeln kristallisierte sich für mich Folgendes:

Der „Meyer“ von 1978 nennt Tugend ganz allgemein jede vollkommen entwickelte Fähigkeit des Menschen auf geistigem oder seelischem Gebiet.

In der christlichen Sitt(en)lehre bezeichnet Tugend zweitens die Fähigkeit, das sittlich Gute zu verwirklichen.

Als 3. bezeichnet dieser „Meyer“ gemäß dem modernen philosophisch-ethischem Sprachgebrauch Tugend als ein Synonym zu dem Begriff Wert als ethischem Grundbegriff.

Der Freimaurer greift natürlich auch zum Internationalen Freimaurer-Lexikon von Lennhoff-Posner-Binder.
Dort heißt es: Tugend ist Übung im Sinne der Pflicht, der konstante auf das Sittliche gerichtete Wille.

Halten wir zunächst einmal fest:

Tugend kann man sowohl als eine menschliche Eigenschaft, nämlich als Haltung, Wille, Fähigkeit bezeichnen als auch als ethischen Grundbegriff, sprich Wert.

Aber damit noch lange nicht genug zu dem Begriff Tugend. Ich muss noch etwas weiter ausholen.

Tugend – griechisch: areté, lateinisch: virtus,
ist ein Begriff, der uns seit Sokrates – im Sinne von Tugend – bekannt ist.
Sokrates bezeichnet Tugend als Gesinnung, die auf die Verwirklichung moralischer Werte ausgerichtet ist.

Seit Platon kennen wir die Kardinaltugenden.

Es sind vier:

  • Weisheit
  • Tapferkeit
  • Besonnenheit oder Maßhalten
  • Gerechtigkeit.

Die christliche Sittenlehre – konkret: Augustinus – hat diesen vier Kardinaltugenden noch drei hinzugefügt.

Glaube – Hoffnung – Liebe.

Wenn man über Tugend spricht, kommt man um Aristoteles nicht herum, der sich mit den Tugenden besonders ausführlich befaßt hat.
Er unterscheidet die dianoetischen, das sind die Verstandestugenden, und die Charaktertugenden.

VerstandestugendenCharaktertugenden
WissenschaftTapferkeit
KunstBesonnenheit
Klugheit oder EinsichtFreigiebigkeit
WeisheitGroßzügigkeit
WohlberatenheitEhr- und Schamgefühl
Verständigkeit 

In seiner Nikomachischen Ethik untersucht er ganz allgemein, was die Tugend ist.

Kurz zusammengefasst:
Tugend ist das Gegenteil von Schlechtigkeit; gattungsmäßig sind Tugenden Eigenschaften, die neben den Fähigkeiten und Leidenschaften sozusagen die Seele des Menschen bilden.

Sie zielen auf den Punkt, der von Übermaß und Mangel gleich weit entfernt ist: die Mitte.
Tugend leben ist demnach eine Gratwanderung oder anders ausgedrückt: ein NEIN zu zwei Exzessen.

Aristoteles bevorzugt das Mittelmaß daher nicht etwa im Sinne von Mittelmäßigkeit, sondern im Sinn von Verteilungsgerechtigkeit.
Und hierauf richtet sich die ethische Tugend.

Ganz besonders gut hat mir gefallen, was ich bei Voltaire zur Tugend gefunden habe. 

Auf die Frage, was ist Tugend, antwortet er – ich zitiere –:

Wohltat gegen den Nächsten. Kann ich etwas anderes Tugend nennen, als was nur wohl tut.

Und ich muss nun einen ganzen Absatz aus seiner Abhandlung über die Tugend aus seinen „Kritischen und satirischen Schriften“ zitieren:

Was soll es mir, dass Du enthaltsam bist? Du befolgst eine Regel der Gesundheit, befindest dich darum besser, und ich mache Dir mein Kompliment.
Du hast Glauben und Hoffnung, ich beglückwünsche Dich noch mehr: beides wird Dir gewiß das ewige Heil verschaffen. Deine theologischen Tugenden sind Himmelsgaben, Deine Kardinaltugenden sind vorzügliche Eigenschaften und Deiner Lebensführung dienlich; aber Tugenden gegenüber Deinen Nächsten sind sie keinesfalls.
Der Kluge tut sich selber Gutes, der Tugendhafte tut es an den Menschen. Der heilige Paulus sagt zu Recht, dass die Barmherzigkeit mehr bedeutet als Glaube und Hoffnung.

Denn so heißt es, füge ich (Hansjörg THOMAS) hinzu, in seinem Brief an die Korinther, aber die Liebe, die Nächstenliebe, ist die größte unter den drei Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe.

Diesen Vortrag habe ich großenteils schon vor zwei Jahren ausgearbeitet.
Als ich ihn halten wollte, hatte es mir im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen, besser: die Stimme. Ich konnte nur krächzende Töne hervorbringen.

In der Zeit, die seither vergangen ist, sind mir nun zwei Bücher untergekommen, auf die ich Sie gern hinweise; sie haben mir in bezug auf Tugend besonders gut gefallen und weitergeholfen.

Das 1. Buch ist von Gottfried Höffe und heißt:
„Lebenskunst und Moral oder macht Tugend glücklich?“

Nach Höffe bedeutet Tugend in der Ethik: die zur Haltung gewordene Fähigkeit und Bereitschaft, als ein hervorragender Mensch zu leben.
Das klingt voll und ganz nach Montaigne: Nichts ist so schön und ehrenhaft als wahrhaft und wie es sich gehört, ein Mensch zu sein, d.h., tugendhaft zu leben.
Höffe fährt deshalb fort: lerne Tugend und praktiziere sie, d.h., üben, üben, üben, durch Taten üben, bis tugendhaft zu leben zur Gewohnheit geworden ist.
Gefordert ist, so sagt er, die Verlässlichkeit der Tugendanwendung durch Taten.

Das 2. Buch ist von dem französischen Philosophen André Comte-Sponville und heißt: „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, ein kleines Brevier der Tugenden und Werte.“
Er zählt für sich 30 Tugenden, von denen er 18 als besonders relevant bezeichnet und in seinem Buch ausführlich diskutiert.
Dieses Buch hat mir insofern noch besser gefallen, als es verschiedene Tugenden kennzeichnet, nicht nur theoretisch diskutiert, sondern auch praktikabel macht.

Die Tugend oder vielmehr die Tugenden, sind unsere moralischen Werte, wenn man so will. Sagt er.

Werte. Ich werde daher künftig für den Plural von Tugend lieber diesen Begriff verwenden.
Einen neuen Gedanken habe ich aus diesem Buch auch noch mitgenommen, der gerade für uns Freimaurer von Bedeutung ist.
Das Nachdenken über die Tugend, über die Werte macht noch nicht tugendhaft.
Klar: aber schon das Denken darüber macht die Entfernung von ihnen bewusst. Denken über deren Vorzüge ist Denken über unsere Unzulänglichkeit oder wie Comte-Sponville formuliert: unsere Erbärmlichkeit.

Bei aller Unzulänglichkeit des reinen Nachdenkens über Tugend fördert es aber eine Tugend, sprich: Wert. Die Demut, die intellektuelle Demut durch überreiches Material über unsere Erbärmlichkeit, im Kleinen unsere persönliche, im Großen die als Menschen und die moralische Demut durch die Einsicht, dass uns Tugend zu leben weitgehend fremd ist, dass uns fast alle Tugenden, sprich Werte fehlen.
Wir bemerken beim Nachdenken aber auch, dass wir uns mit unseren Fehlern nicht anfinden dürfen und dass wir uns von unserer Verantwortung für unsere Schwächen nicht freisprechen dürfen.

Die Demut ist ein Wert, den zu üben, der Freimaurer allerdings rituell, immer wieder gemahnt wird.

Nach allem, was wir nun über die Tugend gehört haben, sei es lexikalisch oder aus der Literatur, von Sokrates bis Voltaire und zu den modernen Philosophen, läßt sich m.E. folgern:

Tugend ist eine dem Wesen des Menschen immanente Eigenschaft, Gesinnung, sittliche Haltung, auf Sittlichkeit, auf Mitte gerichteter Wille, der zur Wohltat am Nächsten wird.
Die Beschäftigung mit ihr macht demütig.

Tugend ist sittlich unterlegte Absicht und Tat.
Entscheidend ist die Tat; der gute Wille, die beste Absicht nützen nichts, wenn sie sich nicht in Wohltaten für die menschliche Gemeinschaft niederschlagen.

Und nun bitte ich Sie, meine Definition der Freimaurerei wieder aus dem Gedächtnis hervorzuholen:
Freimaurerei ist eine dem Menschen immanente sittliche Haltung, die sich in Taten manifestiert.
Und siehe da – die beiden Definitionen Freimaurerei und Tugend ganz allgemein sind praktisch identisch.

Freimaurerei richtig verstanden ist Tugend, der wahre Freimaurer handelt tugendhaft, denn er lebt Werte, die zu Wohltaten an seinem Nächsten werden, und zwar aus sich heraus, uneigennützig und nicht um sich in der Transzendenz ein wohliges Plätzchen zu verschaffen.

Er ist, wie ich bereits dargelegt habe, Verantwortungsethiker, weil er die Folgen seines Handelns für den Nächsten im Auge behält.
Und deshalb kann die Frage: „Gibt es freimaurerische Tugenden“ klar mit NEIN und die Frage: Ist Freimaurerei Tugend? mit JA beantwortet werden.

Ich komme nun zur Beantwortung meines dritten Punktes, der Frage:

„Gibt es Werte, die die Freimaurer besonders schätzen und pflegen?“

In diesem Zusammenhang scheint mir wichtig zu unterscheiden.

Was ist Tugend allgemein? Die Frage habe ich ausreichend beantwortet.
Welche Tugenden gibt es? Und den Plural von Tugend, die Tugenden, dann als Werte zu bezeichnen. Man kann Tugenden, wie wir gehört haben, eben auch als Werte, nach denen zu leben, zu handeln ist, beschreiben.

Gibt es also Werte, die die Freimaurer besonders schätzen und pflegen?

Ja, die gibt es. Sie sind natürlich nicht neu, nicht durch die Freimaurer geschaffen. Wie wäre das nach dem, was wir gehört haben, auch möglich.
Sie sind aber für einen Freimaurer von besonderer Bedeutung.

In dem Faltblatt der Großloge, an dessen Erarbeitung auch unser Br.: und Alt-Großmeister Gerhard Großmann teilgenommen hat, heißt es:

Als Glieder eines ethischen Bundes treten Freimaurer für Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Toleranz, Friedensliebe und soziale Gerechtigkeit ein.

Lennhoff-Posner-Binder nennen als Kardinaltugenden der Freimaurer, worunter wir nach meiner Definition nun Kardinalwerte verstehen wollen, Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung, Selbstveredelung, Werte, die zur Toleranz führen und das soziale Leben im Sinne des Humanitätsideals formen wollen.

Ich fasse zusammen, wir haben hier acht Werte:

  • Menschlichkeit
  • Brüderlichkeit
  • Toleranz
  • Friedensliebe
  • soziale Gerechtigkeit
  • Selbsterkenntnis
  • Selbstbeherrschung
  • Selbstveredelung

Alle Werte, auch die drei Letztgenannten, haben eines gemeinsam, und zwar den Bezug zu dem anderen, zu dem Mitmenschen.
Auch die Werte, bei denen die Bezeichnung „Selbst“ voransteht, diese Behauptung also zunächst scheinbar nicht zutrifft, haben diesen Bezug.

Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung, Selbstveredelung sind kein Selbstzweck.
Diese Werte zu leben macht aus freimaurerischer Sicht nur dann Sinn, wenn sie zum Wohl der Mitmenschen führen.
Ich verrate sicher kein unbedingt zu verschweigendes Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass die letzten Worte des MvSt, in unserem Ritual lauten:
Gehen wir hinaus und beweisen der Welt die Tugenden – sprich: Werte – die zu üben wir hier gelobt haben.

Wenn Freimaurer ritualmäßig arbeiten, wollen sie das Bewusstsein schärfen für Werte, die sie im profanen Leben in die Tat umsetzen sollen!

Diese Bewusstseinsschärfung ist nicht der gesamte Inhalt unserer Ritualarbeiten, aber sicher ein wesentlicher Teil.

Der wahre Freimaurer arbeitet an sich, um im profanen Leben nicht nur an sich selbst Wohltaten zu üben, sondern auch an seinen Mitmenschen.
Er will die soziale Welt verbessern.

Die freimaurerische Grundthese arbeitet man gut heraus, wenn man sie mit der marxistischen vergleicht. Sie steht hierzu in diametralem Gegensatz.

Während Marx behauptet, dass die Veränderungen der Gesellschaft einen neuen Menschen schafft, heißt, das Sein prägt das Bewusstsein, geht der Freimaurer davon aus, dass erst der Mensch geändert werden muss, dann ändert sich die Gesellschaft, heißt, das Bewusstsein bestimmt das Sein.

Nur in einem Punkt geben die Freimaurer Marx recht, der formuliert hat:
Die Philosophen versuchen, die Welt zu erklären, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.

Wenn die Beziehung zum Mitmenschen nun der essentielle Gesichtspunkt freimaurerischer Intention ist, dann fehlt mir noch ein Wert. Ein Wert, der bisher noch nicht direkt angesprochen wurde.
Ganz am Anfang meines Vortrages, als es um den sittlichen Kern des Menschen ging, Sie erinnern sich an die drei Thesen, klang er aber an.

Dieser Wert kennzeichnet für mich etwas typisch Freimaurerisches, ohne dass der Wert in der deutschsprachigen freimaurerischen Literatur bisher aufgetaucht ist.

Es ist die Empathie.

Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Gedanken, Gefühle und das jeweilige Weltbild seiner Mitmenschen auf der ganzen Welt hineinzuversetzen.
Der Begriff leitet sich von dem griechischen Wort „empatheia“ für Einfühlung ab.

Empathie impliziert, Gefühle, Denkungsart, Vorstellungen von der jeweils eigenen sozialen Umwelt des Mitmenschen so weit möglich zu erkennen, und nun kommt der wesentliche Aspekt der Empathie, auch aus der Sichtweise und Perspektive des Mitmenschen zu interpretieren.

Empathie bedeutet zwar, durch Einfühlung in den Anderen für ihn Verständnis aufzubringen, es bedeutet aber nicht, alles gutzuheißen oder zu verzeihen, was den Anderen umtreibt und zu Handlungen veranlasst.
Alles verstehen heißt noch lange nicht alles verzeihen.

Aber ohne Verständnis ist Gerechtigkeit üben nicht möglich.
Wenn Gerechtigkeit der beständige Wille ist, jedem sein Recht zuteil werden zu lassen, dann muss ich, will ich z.B. soziale Gerechtigkeit üben, den Mitmenschen kennen und verstehen in seiner konkreten Situation.

Dann genügt es eben nicht, nur ein Bild von sozialer Gerechtigkeit aus meiner Situation heraus zu kreieren, sondern dann muss ich mich in ihn hineinversetzen, denn erst dann werde ich verstehen, was er für sozial gerecht hält.

Ob ich dann seiner Vorstellung folge, überhaupt aufgrund der allgemeinen Gegebenheiten folgen kann, das steht auf einem anderen Blatt.

Wenn ich die vorhin als zentrale Werte der Freimaurerei genannten Werte durchdekliniere, komme ich immer wieder zu dem Ergebnis, dass Empathie praktisch die Basis ist für das ernsthafte Ausleben dieser Werte.

Heute Abend nun werde ich zwei Werte anreißen und auf deren Voraussetzung durch Empathie kurz eingehen. 
Es sind dies die beiden für mich zentralen Werte der Freimaurerei: 
Die Brüderlichkeit und die Toleranz.

Das Stichwort „Brüderlichkeit“ gibt es übrigens in unserem Freimaurer-Lexikon nicht, aber das Stichwort „Bruder“. Dort heißt es dann u.a., ich zitiere:

Der größte Vorwurf gegen Freimaurer ist der unbrüderlichen Verhaltens. In der gegenseitigen Bezeichnung als Bruder liegt eingeschlossen ein gesteigerter Grad des Entgegenkommens in allen Lebenslagen, Verständnis für Charaktereigenschaften und wohlwollendes Sichhineinleben in die Seele eines anderen Menschen.

Vor allem letzteres, das Sichhineinleben ist nun Empathie par excellence.

Auch wenn der Gedanke der Brüderlichkeit sehr alt ist – er stammt ursprünglich aus der Philosophie der Stoa und aus dem Judentum, wurde dann vom Christentum im Sinne der Nächstenliebe übernommen – gibt es keine andere Voraussetzung für ihn als Empathie, diesen neuzeitlichen Wert.

Brüderlichkeit ist die Überzeugung von der Zusammengehörigkeit, von der Gleichheit und Würde aller Menschen.
Sie ist ein Wert, der zu Friedfertigkeit, Toleranz, Friedensliebe und Hilfsbereitschaft führt.

Diese anderen Werte – füge ich hinzu – sind nur dann zu leben, wenn der Mitmensch angenommen, voll und ganz ernst genommen, d.h. sich ernsthaft mit ihm auseinandergesetzt, Empathie geübt wird.
Gleichgültig also, ob ich diesen Wert aus rein freimaurerischer oder allgemeiner Perspektive betrachte, Einfühlungsvermögen, Hinhören, Hinsehen, Aufeinanderzugehen, Empathie ist immer Voraussetzung.

Nun noch ein paar Worte zur Toleranz, zu der ich an diesem Ort bereits zweimal Stellung genommen habe.

Bei der Fülle von An- und Einsichten zu diesem Wert, bleibt mir nur eine Beschränkung auf die Definition, wie ich sie für mich herausgearbeitet habe.
Demgemäß ist Toleranz das persönliche Bemühen, die Andersartigkeit der Mitmenschen, sprich das anders denken, fühlen und handeln, wer auch immer diese anderen Menschen sein mögen, zuzulassen, zu ertragen, ja vielleicht schmerzlich zu erdulden und sogar zu fördern, solange sich der zu Tolerierende im Rahmen der Gesetze meines Umfeldes, meines staatlich geformten Landes, bewegt, und selbst friedfertig bleibt, d.h., sein Anderssein ohne Anwendung von Gewalt lebt.

Als ich diese Definition erarbeitete, war mir Empathie noch kein Begriff. Betrachte ich heute beide Definitionen, so ist für mich glasklar:
Tolerant kann ich nur dann sein, wenn ich mich in den anderen hineinversetzt, seine Identifikation begriffen, ihn in seinen Lebensumständen erkannt, also als Mensch, als Geschwister ernst genommen habe. 

Andernfalls steht statt Toleranz wohl Ignoranz.

Toleranz ist letztlich stets personenbezogen. Sie setzt einen eigenen Standpunkt voraus, zu dem es Alternativen, konkurrierende Ansprüche gibt. Für mich geht es bei der Toleranz immer um den Andersdenkenden, nicht um den physisch oder sozial Andersseienden. 
Den Andersseienden muss ich akzeptieren, ohne Herablassung, ohne duldendes Ertragen annehmen, den Andersdenkenden, der auch anders denken könnte, muss ich tolerieren. Beides geht jedoch nicht ohne Einfühlungsvermögen, ohne Empathie.

Ich fasse zusammen:
Es empfiehlt sich, Tugend und Tugenden zu unterscheiden und Tugenden als Werte zu bezeichnen.

Wenn wir Tugend als Gesinnung, die auf die Verwirklichung moralischer Werte gerichtet ist, verstehen, so können wir Freimaurerei Tugend nennen.
Freimaurer arbeiten an sich selbst, um sich zu verbessern für ein brüderliches, gerechtes, friedfertiges, tolerantes Miteinander.

Denn Tugend bedeutet, Werte leben, nicht nur daran denken, davon reden, sondern danach handeln.
Drei Werte, Empathie, Brüderlichkeit und Toleranz, habe ich kurz beschrieben, letztlich aber nur angerissen. 
dass es für Freimaurer, aber selbstverständlich nicht nur für die, noch zahlreiche andere lebenswerte Tugenden, sprich: Werte, gibt, versteht sich von selbst.

Nun habe ich zu Beginn meines Vortrags Lessing zitiert, wonach man auf die Tugend Freimaurerei sowohl durch eigenes Nachdenken als auch durch Anleitung geleitet werden kann.

So weit, so gut.

Wir wissen jedoch alle, dass die guten Vorsätze nur zu schnell vergessen werden, wenn die entsprechende Übung fehlt.

Wo übt der Freimaurer?
„Grundlage freimaurerischen Wirkens ist die Loge.“ Heißt es in dem bereits genannten Faltblatt der Großloge.
Die Loge ist eine Übungsstätte, eine Stätte, in der alle genannten Werte aufrichtig und verständnisvoll geübt werden können.

Und ich versichere Ihnen, liebe Leser, in jeder Loge würden Sie Gelegenheit dazu haben.